Reisegefühle zu Mexiko: „Brokkoli am Wegesrand“

Bei einer Reise durch das mexikanische Hochland Oaxacas entdeckt der Autor ein abgelegenes Feld voller Brokkoli und gibt sich seinem Sammlerinstinkt hin.

Dies ist ein exklusiver Auszug aus dem bald im Adakia Verlag erscheinenden Buch „Reisegefühle“ von Uwe Kirst. Im Juni 2023 hatte ich die große Freude, Uwe und seine bezaubernde Frau Heike bei mir hier in Oaxaca willkommen zu heißen. Zusammen haben wir eine Woche lang Oaxaca entdeckt. Daraufhin sind berührende, tiefgehende, in sich geschlossene Kurzgeschichten für das Buch „Reisegefühle“ entstanden. Viel Freude beim Vorab-Lesen!

Brokkoli am Wegesrand

Die Hitze hatte sich noch nicht festgesetzt im Grün der Straßenbäume, obwohl die weiten Felder erkennen ließen, dass Wasser derzeit nicht im Überfluss zur Verfügung stand. Zig Meter lange Gestelle mit überdimensionalen Spinnenrädern, die an den Rändern oder inmitten der ausgedehnten Schläge zu sehen waren, kündeten von einer aktiven Bewässerungstechnik. Langgezogene Verbindungsstraßen zwischen den Ortschaften waren immer wieder gesäumt von flachen Wirtschaftsgebäuden, sorgsam eingefriedet, nicht selten mit Betonhäuschen vor den breiten Toren, die zu einer Fahrzeugwaage gehörten. Fahrzeuge begegneten einem vereinzelt, meist Lastwagen, buntblitzende Trucks oder vorsintflutliche Gefährte mit hochbeladenen, aber schiefen Ladeflächen. Tadellos blinkende und rostig zusammengeflickte Technik – mitunter dicht aufeinanderfolgend – am Ende zählte nur deren Nutzen als Transportmittel.

In den Ortschaften begannen die Menschen Tische aufzustellen, auf denen es bald Obst, Gemüse und kleine Speisen zu kaufen geben würde. Makellos und hygienisch überzeugend verpackt – oder frisch, prall, saftig – immer verlockend und wohlgeordnet, teils von geometrischer Akkuratesse. Halten konnte man praktisch überall, Regeln beschränkten das selten, und wenn, dann waren solche Verkehrszeichen eher zur Orientierungshilfe, denn als strikte Anweisungen zu interpretieren.

Für Eilige, die hungrig und durstig den Ort durchfuhren, hielten sich Verkäufer in Bewegung, die vor allem Süßigkeiten und Getränke feilboten. Genau so, wie es ein Mensch am Steuer eines Wagens ohne sonderlichen Aufwand konsumieren konnte. Qualität zählte und praktische Aspekte – nicht das Selbstverständnis oder gar der Dünkel des Anbieters. Es waren Männer, nicht selten Jugendliche, die an die Autos herantraten, schon von weitem ihre Angebote hochhaltend. Ein Wink genügte und sie kamen zum heruntergefahrenen Fenster – eine andere Geste und sie gingen ohne Murren vorbei.

Um jede unangemessene Geschwindigkeit in der Ortslage, an Kreuzungen, Einfahrten oder öffentlichen Gebäuden zu verhindern, zogen sich quer zur Fahrtrichtung Betonschwellen über die Fahrbahn – Topes. Sie anders als in der Schrittgeschwindigkeit eines Fußkranken zu passieren, konnte zu ernsthaften Schäden an Reifen, Felgen und Fahrwerk führen. Unaufmerksamkeiten hatten schon manches Auto buchstäblich schlagartig aus dem Verkehr gezogen. Neben diesen Sollbremsstellen zum Schutz von Mensch und Tier standen die Verkäufer am häufigsten. Ebenso an Kreuzungen mit langen Ampelphasen, insbesondere in großen Städten. Dort gesellten sich zusätzlich die Frontscheibenputzer dazu. Bewaffnet mit Schwammrechen und wassergefüllten Halbliterjoghurtbechern gelang es ihnen, in kürzester Zeit die Scheibe optimal zu säubern.

Das Band der Straße lag vor der Schnauze des stabilen Dodge und am Horizont ersehnte das dunstige Blau der Bergzüge die nähere Erkundung. Geschwindigkeit hatte lange schon ihre Bedeutung verloren, sobald es zur Gewohnheit geworden war, schier endlose Strecken durch dieses Land zurückzulegen. Das Wahrnehmen von Fahrbahndecke, Gegenverkehr, von Hindernissen und Luftspiegelungen sowie das Verhalten von Menschen, die ins Blickfeld gerieten, funktionierte gewohnheitsmäßig. Ungeachtet eigener Zeitziele verlor es dennoch an Bedeutung, minutengenau an irgendeinem Ort anzukommen. Das Überholen von behäbigen Vehikeln klappte rechts wie links und fand nur dann statt, wenn deren Tempo extrem langsam war oder die Fahrzeugaufbauten die Sicht auf das Land verhinderten. Gefühle wie in den USA stellten sich ein, wo tagelanges In-eine-Richtung-Steuern eine triviale Erfahrung war, da die Entfernungen unendlich zu sein schienen und die erlaubte Geschwindigkeit kaum Experimente zuließ.

Neben einer die Straße begleitenden Baumreihe wurde ein freies Gelände sichtbar, das sich vor einer langen Mauer aus Betonelementen ausbreitete. Staubige Erde, nichts Gepflastertes. Fahrspuren von schweren Trucks verrieten, dass hier gewendet und gerastet wurde. Weit einsehbar von allen Seiten schien es ein günstiger Platz, Pause zu machen, eine Büchse Red Bull aus der Kühlbox zu nehmen, und in die Richtung zu schauen, aus der man gekommen war. Empfehlenswert, dabei den Sombrero nicht zu vergessen, denn die Sonne in der mexikanischen Hochebene verhielt sich feindselig gegenüber ungeschützten Denkapparaten.

Das Gelände grenzte an ein nahezu endloses Feld mit Gemüse: Brokkoli, so weit man sehen konnte. Kaum die Anbaufläche einer durchschnittlichen Landfamilie. Die Neugier ließ mich näher zu den Bäumen gehen, die an den Acker anschlossen. Dicht neben ihnen führten Fahrspuren am Feldrand vorbei, übersät mit verwelkenden Gemüseblattresten. An einer Stelle waren ein paar sauberabgetrennte Brokkoliköpfe vergessen worden. Der Konsistenz nach lagen sie erst wenige Stunden dort, die Schnittflächen waren zwar trocken, doch die sattgrünen Röschen schienen fest. Sie ließen sich brechen, bevor sie zu gummiartigen Karikaturen dieser knackigen Kohlsorte mutierten.

Da erwachte der alte Instinkt des Sammlers in mir, Nahrung zusammenzutragen für die Sippe, Vorräte anzulegen und so das Überleben der Familie zu garantieren. Gleichzeitig widerstrebte es mir, diesen untadeligen Kohlstrunk wieder dem sicheren Verrotten preiszugeben, ihn hinzuwerfen wie Abfall. Zu all den anderen Resten, die in der Nacht zwar von Tieren in Besitz genommen wurden, aber ansonsten nur zur überflüssigen Düngung des Feldweges dienen würden.

Beherzt griff ich zu und ging mit der Beute – zwei bildschönen Brokkoliköpfen – zu meinem Gefährt, das mir mit gähnender Heckklappe offenbar signalisierte, dass es genügend Platz hätte für wesentlich mehr. Ich verwahrte sie sicher im schattigen Inneren des Wagens, legte den Hut auf die Rückbank und startet den Motor. Weiter ging es in ursprünglicher Richtung.

Nicht, ohne einen verstohlenen Blick nach allen Seiten geworfen zu haben, ob nicht doch irgendein Mensch Anstoß genommen hatte an der Aneignung herrenlosen Straßengemüses im mexikanischen Hochland des Bundesstaates Oaxaca.

Foto Uwe Kirst 1 - Reisegefühle zu Mexiko: "Brokkoli am Wegesrand"

Uwe Kirst ist in Deutschland einem großen Publikum als Redner bekannt und lebt in Mexiko. Er schreibt seit Jahren Prosa. In seinen Geschichten pflegt er die klassische Form der Short Story, so in »Bella und Paul« sowie in diversen Anthologien. Ein Roman ist in Vorbereitung. Sein zweiter Band mit Erzählungen, »Sommerwege«, der soeben im Adakia Verlag Leipzig erschienen ist, wird derzeit ins Spanische übersetzt. Dieser Text, den moving2mex mit Erlaubnis von Autor und Verlag exklusiv vorab veröffentlichen darf, gehört zum Manuskript seines neuen Buches »Reisegefühle«, das demnächst, erscheinen wird.

Weitere lesenswerte Werke von Uwe Kirst:

Bella und Paul Buchcover 668x1024 - Reisegefühle zu Mexiko: "Brokkoli am Wegesrand"
Sommerwege Buchcover - Reisegefühle zu Mexiko: "Brokkoli am Wegesrand"
Catalina Buchcover - Reisegefühle zu Mexiko: "Brokkoli am Wegesrand"
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