Dies ist ein exklusiver Auszug aus dem bald im Adakia Verlag erscheinenden Buch „Reisegefühle“ von Uwe Kirst. Im Juni 2023 hatte ich die große Freude, Uwe und seine bezaubernde Frau Heike bei mir hier in Oaxaca willkommen zu heißen. Zusammen haben wir eine Woche lang Oaxaca entdeckt. Daraufhin sind berührende, tiefgehende, in sich geschlossene Kurzgeschichten für das Buch „Reisegefühle“ entstanden. Viel Freude beim Vorab-Lesen!
Chap(ea)u
Was haben wir uns in Deutschland da angewöhnt: Warten, reden, essen, trinken und wieder reden bis zum unverständlichen Gemurmel – alles an einem Platz, auf einem Stuhl, an einem Tisch – und im selben Lokal. Und wenn es hochkommt – oder passender: hoch her geht – wird gesungen. Meist indessen dann in einem Zustand, bei dem man besser keine Laute mehr von sich geben sollte. Zumindest nicht solche, die den Anspruch haben, einem Lied zu ähneln. In anderen Landstrichen hingegen singen Menschen, bevor ihnen der Alkohol die Zunge lähmt. Auf jeden Fall in Ländern wie Frankreich und Italien.
In Mexiko liegen die Lieder genau in der Mitte: zwischen Nüchternheit und extremem Füllstand. Immer und fast überall, wo sich die Krone der Schöpfung zur Freizeit begegnet. Nicht selten schlichtweg aus Freude am Leben. Und das zu all den Gelegenheiten, zu denen aus kulturellen, religiösen oder traditionellen Anlässen und Motiven heraus gesungen wird. Die Behauptung, dass in Mexiko die Anzahl der des Feierns würdigen Tage höher ist, als das Jahr überhaupt welche hat, ist logischerweise übertrieben – etwas.
So wie die Deutschen nutzt man in Mexiko diese Lokalitäten kaum. Im Übrigen auch nicht in England, wo der willkommene Gast an der Bar oder am Kamin, zumeist in separaten Arealen des stilvollen Wartens geparkt wird, bis der Tisch für die Mahlzeit hergerichtet ist. Stilvolles Warten kann dabei bedeuten, an einer belebten Bar zu sitzen, in einem bequemen Sessel am Kamin oder in dessen Nähe. Aufmerksam versehen mit einem Getränk; Gin und Tonic wäre ein solches.
Und was in unserem Kulturkreis am meisten verblüfft: Nachdem in diesen Ländern das Essen verzehrt wurde, erwartet der Wirt, dass man sich entfernt – gerne erneut an die Bar oder woanders hin. Um Platz schaffen für weitere, hungrige und zahlungsfähige Verzehrgäste.
In Mexiko hingegen ist eine solche Trennung in den Restaurationen selten derart rigoros. Dort definiert sich eher das ganze Lokal als geeignet für Speisen oder für Getränke. Kurz gesagt, in vielen Speisegaststätten gibt es keinen Alkohol oder zumindest keine Schnäpse. In anderen Etablissements wiederum kaum etwas zu essen. Dafür läuft die Bedienung durch den Raum und bietet Kostproben aus unterschiedlichen Flaschen an, freilich in der Hoffnung, dass es nicht bei der Probe bleibt.
Das Ineinanderübergehen beider gastronomischer Philosophien schafft im Land der Azteken spezielle Orte des Innehaltens, durchaus ungewohnt, kreativ und niemals zu diktatorisch in ihrer Bestimmung. So gibt es in Coatepec im Bundesstaat Veracruz eine Bar, die sich Chapu nennt; abgeleitet aus dem Namen der Stadt, aus dem das Konzept dafür stammt: Chapultepec.
Alles und jedes hat dort den identischen Preis – zum Beispiel fünfundzwanzig Pesos; jedes Getränk, jeder Snack, alles. Da die Portionen Vorspeisenformat haben und nur als Beigabe zu den Getränken vorgesehen sind, ist das ein famoser Ort, um verschiedene Speisen zu testen, herauszufinden, was Gringas sind oder Lonchecitos, Burritos und Quesadillas.
Selbstredend ist alles von bester Qualität, so, wie das im Lande meistens der Fall ist. Eher gewöhnungsbedürftig sind die riesigen Wand-Bildschirme mit Sport, Werbung und einer Musik, die in den Räumen ein Gespräch zeitweise relativ überflüssig macht.
Bistrotische mit eisernem Unterbau, Holzplatten und -sitze, bedruckte Papierspeisekarten, die gleichzeitig als Platzdecken dienen und ein regalartiges Gestell mit gedeckelten Stahlbehältern, die verschiedenerlei Beigaben enthalten. Sauber beschriftet von pikant eingelegten Zwiebeln oder Chilis bis hin zu Salsas, mit denen es leicht gelingen würde, einen Teufel in die Flucht zu schlagen.
Nie fehlt in Mexiko die Gelegenheit zum Händewaschen vor den Toiletten, denn mit den Händen Tortillas zu rollen gehört hier zum Alltag. Und die Mexikaner sind saubere Leute; selbst an den heißesten Tagen riecht niemand nach Schweiß – es sei denn, es ist ein Tourist.
Ich hatte einen Burrito Chicharrón vor mir, eine Portion Gringas Arrachera und die besten Papas a la francesa der Stadt – schlank, knusprig, goldgelb. Ketchup oder eine Chipotle-Mayonnaise – ich konnte mich schwer entscheiden. Das einwandfrei gekühlte Bier – ein Victoria con vasito – also mit Trinkglas, schimmerte Dunkelgold. Nicht ausgeschlossen, dass mich später noch etwas Süßes lockte: Ein Flan oder Plátanos fritos?
Zwei Tische weiter hatte sich eine Gruppe von sieben Frauen zusammengefunden; Freundinnen oder Kolleginnen; bunt, vertraut und bester Laune tranken sie mehrheitlich Michelada – ein kühles Biergetränk mit fruchtigen Beigaben. Sie lachten, erzählten sich in perlenden Sätzen Geschichten, die ich nicht verstand. Kleider, Hosen, Blusen, Röcke und teils aufwendige Frisuren zu strahlenden Gesichtern. Schülerinnen waren es nicht, aber ebenso wenig Mütter erwachsener Kinder.
Es war der 16. September, der Nationalfeiertag in Mexiko, und früh am Abend. Hier beginnt vieles – wie in anderen südlichen Ländern der Welt – erst nach zwanzig Uhr und später. Das Lachen der Frauen ging in Singen über – die musikalischen Geräusche, die zum Chapu gehörten, störten sie dabei nicht. Aparte Gesichter mit dunklen Augen, die zu leuchten schienen, von unterschiedlicher Statur, in ihrer eigenen überzeugenden Schönheit.
Mein Blick trank die Farben und Formen und die Musik vermittelte mir ein Gefühl gelöster Heiterkeit. Ich nahm das lebensvolle Szenario in mich auf und empfand die Freude, hier zu sein: in diesem Land und an diesem Ort – genau jetzt. Die milde Luft schmeichelte und die Lichter des Abends, erschienen von der Dachterrasse aus wie verstreut leuchtende Murmeln auf dunkelblauem Grund.
Als ich erneut zu den Feiernden sah, erfasste mich der Blick einer der Frauen und für eine Sekunde tauchten unsere Augen ineinander. Im sorgfältig geschminkten Gesicht entstand ein breites Lächeln und nach einigen Worten in die Runde, bewegten sich die Köpfe, bis auch die Letzte zu mir herübersah. Voller Neugier,
herausfordernd, skeptisch, mit herzlichem Interesse – es war alles zu lesen und so gab ich ihnen das, was ich für sie hatte: Ermunternde Offenheit, Bewunderung und Wärme für die unbekümmerte Schönheit dieser heiteren Menschen, die sich genau hier zu Hause wussten.
Ich entsann mich der Bedeutung des Tages und stand auf, ging die wenigen Schritte zum Tisch. Alle wandten sich jetzt mir zu, voller Erwartung, und eine der Frauen mit reich besticktem Oberteil warf ihren Schal hinter sich und richtete geschwind ihr Dekolleté. Ich sah in die vergnügten Gesichter stolzer wissender Weiblichkeit, hob mein Glas und sagte das, was an einem solchen Tag höchstwahrscheinlich das Beste war, das ein Mensch sagen konnte: Viva Mexiko!
Es war mir nie so ernst damit, wie in diesem Augenblick.
Uwe Kirst ist in Deutschland einem großen Publikum als Redner bekannt und lebt in Mexiko. Er schreibt seit Jahren Prosa. In seinen Geschichten pflegt er die klassische Form der Short Story, so in »Bella und Paul« sowie in diversen Anthologien. Ein Roman ist in Vorbereitung. Sein zweiter Band mit Erzählungen, »Sommerwege«, der soeben im Adakia Verlag Leipzig erschienen ist, wird derzeit ins Spanische übersetzt. Dieser Text, den moving2mex mit Erlaubnis von Autor und Verlag exklusiv vorab veröffentlichen darf, gehört zum Manuskript seines neuen Buches »Reisegefühle«, das demnächst, erscheinen wird.