Dies ist ein exklusiver Auszug aus dem bald im Adakia Verlag erscheinenden Buch „Reisegefühle“ von Uwe Kirst. Im Juni 2023 hatte ich die große Freude, Uwe und seine bezaubernde Frau Heike bei mir hier in Oaxaca willkommen zu heißen. Zusammen haben wir eine Woche lang Oaxaca entdeckt. Daraufhin sind berührende, tiefgehende, in sich geschlossene Kurzgeschichten für das Buch „Reisegefühle“ entstanden. Viel Freude beim Vorab-Lesen!
Prominente Kulinarik
Oberhalb der Dächer von Oaxaca de Juárez erfasst der Blick eine Weite, wie sie sich durchaus an anderen Orten der Welt ähnlich eindrucksvoll erstreckt. Nur, dass sich das Ganze auf einer Hochebene befindet, die und 1.500 Meter über dem Meeresspiegel liegt, er knapp anderthalb Stunden entfernt zum Pazifik gehört. Leichter Dunst entschärft die Konturen der Berggipfel am Horizont. Unterhalb der Fenster, die diese Aussicht ermöglichen, windet sich eine schmale Steintreppe zur Straße, die sich eng und unspektakulär durch die Randlage dieser 250.000 Einwohner beherbergenden Stadt schlängelt.
Das Gebäude hat einen abwechslungsreichen Grundriss, sodass der Raum über den bebauten Hang ragt. Ein Weiterer ist im Inneren des Restaurants zu finden: ohne Fensterfront, aber mit Theke, großzügig zur Decke hin geöffnet. Die Deckenleuchten bestehen aus ovalen unterschiedlich geflochtenen Korbschirmen, von denen einer dem anderen gleicht. Er stellt den gastronomischen Kern dar, grenzt an die Küche und die Wirtschaftsräume. Der Ausgang führt einige Stufen hinab, über eine offene Terrasse, mit Tischen um Baumstämme geschmiegt, bevor man die Treppe nach unten erreicht.
Leichtmetallene Fensterrahmen, Simse mit wuchtigen Blumentöpfen auf durchbrochen gemauerten, hüfthohen Trennwänden, bieten Raum für die Tische mit Marmorplatten und die bequemen Holzstühle. Alles von Wänden umgeben, die mit Grünpflanzen, Kunstgegenständen und Bildern geschmückt, eine farbig-wohlige Atmosphäre schaffen. Hier finden wöchentlich Events statt, imponierende musikalische Darbietungen, kulinarisch unterlegt – bunt, laut, quirlig. Die Lebensfreude lässt sich erahnen. Ohne Reservierung sind die
Chancen gering, dabei zu sein.
Das Lokal im Viertel Faldas del Fortin gehört einer in den USA und Mexiko prominenten Künstlerin, die Kunst und Geschäftssinn zu verbinden gelernt hat. Moderne Lieder und Texte aus der Tradition von Oaxaca, die Geschichte der Menschen beschreibend, ihr Lachen und ihre Tränen; im Bewusstsein unsagbar lange existierender Kultur. Sie besitzt nicht nur eines davon; alle sind erfolgreich, mit verlässlicher Atmosphäre.
Mein Tisch befindet sich an der Fensterseite zum erwähnten Rundblick, in der Karte finden sich anspruchsvolle Interpretationen hiesiger Kochtradition und einige ansprechende Weine. Ein Platz für Exzeptionelles und diejenigen, die das zu schätzen wissen. Camarones und Oktopus, Fisch und Fleisch, Gemüse und Obst in mexikotypischer Qualität mit kulinarischer Finesse. Weit weg von dem, was der Europäer als mexikanische Speisen zu kennen vermeint. Mancher wird, wie heutzutage gang und gäbe, kategorisieren: Das sind Gerichte für die Leute mit Geld, die Ärmeren könnten sich ein solches Restaurant nicht leisten; was die zum Essen hätten, sei mangelhaft. Diese sortierte Weltsicht erfasst nur die Oberfläche.
Der weniger bemittelte Mexikaner verzehrt nicht selten Lebensmittel von besserer Qualität, als der gutbetuchte Europäer. Selbst wenn das Stück Fleisch nach deutschem Gusto nicht als Spitzencut durchgeht, ist es trotzdem mehr bio, denn das Filet eines mit industriellen Futtermitteln gemästeten Tieres im fernen Klugscheißerland. Mit anderen Worten: Das Huhn, das ich an einer mexikanischen Straße kaufen kann, ist oft frischer und von besserem Geschmack als das meiste, das in deutschen Märkten angeboten werden kann. Die Ursachen dafür böten Stoff für eine seitenlange Schilderung, in welcher der Stellenwert von Lebensmitteln in den Köpfen mancher Europäer eine zentrale Rolle spielen würde.
Es sind kaum Gäste im Restaurant, denn der Abend ist längst nicht angebrochen. Die Ruhe ist angenehm, nach dem lebhaften Gewirr in den Straßen und der geräuschdurchdrungenen Atmosphäre einer lebendigen Vorstadt. Der Weißwein ist trocken und körperreich, ein mexikanisches Gewächs von der Baja California, einer an Kalifornien grenzenden Halbinsel, die für ihren Weinbau bekannt ist.
Mein Blick fällt auf einen jungen Angestellten in hochgeschlossener weißer Kellnerjacke, der aus der Entfernung zu mir schaut; es sieht nicht aus, wie die reine Aufmerksamkeit eines Kellners für den Gast. Und da steht er schon neben mir, zusammen mit zwei seiner Kolleginnen in schwarzem Outfit, in den Händen ein Dessertglas mit einer kleinen brennenden Kerze. Beides wird vor mir abgestellt und dann beginnen alle drei vergnügt ein Geburtstagslied für mich zu singen. Mit strahlenden Gesichtern voller Sympathie und fast spitzbübischer Freude.
Nachdem mein Glas geleert ist, die Rechnung bezahlt und ein letzter Blick über die Brüstung die ungezählten farbenfrohen Dächer getroffen hat, gehe ich nach hinten in Richtung Büffet und Ausgang. Da sitzt sie, unvermittelt: Lila Downs, die für ihre Kunst weltbekannte Unternehmerin, mit offenem, hellen Blick und unterhält sich mit ihrer Crew. So, als wäre sie eine der Serviererinnen, die sich eine Atempause gönnt.
Unsere Blicke begegnen sich und ich bedanke mich für die wohltuenden Stunden in ihrem Restaurant, verschönt durch das untadelige Team. Ein gemeinsames Foto für Instagram, eine herzliche Verabschiedung durch jeden, der Dienst hat. Lachen, Winken, hasta luego. Geburtstag in Mexiko.
Derweil ich mich über die Stufen nach unten zur Straße wende, prägt das Lächeln für die Menschen in diesem Lokal mein Gesicht. Es fehlt mir an nichts.
Uwe Kirst ist in Deutschland einem großen Publikum als Redner bekannt und lebt in Mexiko. Er schreibt seit Jahren Prosa. In seinen Geschichten pflegt er die klassische Form der Short Story, so in »Bella und Paul« sowie in diversen Anthologien. Ein Roman ist in Vorbereitung. Sein zweiter Band mit Erzählungen, »Sommerwege«, der soeben im Adakia Verlag Leipzig erschienen ist, wird derzeit ins Spanische übersetzt. Dieser Text, den moving2mex mit Erlaubnis von Autor und Verlag exklusiv vorab veröffentlichen darf, gehört zum Manuskript seines neuen Buches »Reisegefühle«, das demnächst, erscheinen wird.