Reisegefühle zu Mexiko: „Das deutsche Dorf ohne Deutsche“

Dies ist ein exklusiver Auszug aus dem bald im Adakia Verlag erscheinenden Buch „Reisegefühle“ von Uwe Kirst. Im Juni 2023 hatte ich die große Freude, Uwe und seine bezaubernde Frau Heike bei mir hier in Oaxaca willkommen zu heißen. Zusammen haben wir eine Woche lang Oaxaca entdeckt. Daraufhin sind berührende, tiefgehende, in sich geschlossene Kurzgeschichten für das Buch „Reisegefühle“ entstanden. Viel Freude beim Vorab-Lesen!


Das deutsche Dorf ohne Deutsche

Die Sonne verwandelt den Blick über die Landschaft in eine Symphonie des Dunstes, in dessen Schutz sich die Reihe der Hügel wie Kulissenebenen hintereinander aufbauen. Dem, der da fährt, wird nicht bewusst, dass er sich längst mehr als 1.800 Meter über Normalnull bewegt und die entfernten Gipfel die Dreitausendmetergrenze reißen.

Die für Mexiko bestens intakten Straßen verlangen trotzdem Aufmerksamkeit, denn nicht immer sind es nur flächige Unebenheiten, die das Fahrwerk des Autos fordern. Nicht selten werden sie von scharfgerandeten Löchern unterbrochen, die nur von den Asphaltkanten beidseits der Straße übertroffen werden, wenn einem der senkrechte Abbruch von dreißig Zentimetern in das sandige Bankett vom aktuell benutzten Fahrzeug übelgenommen wird.

Die Rast am Straßenrand – Santa Ana del Valle sagt Google Maps – entschädigt, sobald das Fahrgeräusch erklungen ist, mit sanftem Wind, unermesslich wirkender Weite und dem Gesang von Vögeln, die zwar nicht zu sehen sind, aber ihre Frühlingsstimmung hinausjubilieren. Inmitten rötlichbrauner Gräserbüschel prangt das satte Grün von Euphorbien. Immer wieder überraschen die gelben, roten und purpurnen Blüten sowie die im Panorama so unwirklich erscheinenden Zypressenreihen, die ebenso in der Toskana aufgefädelt sein könnten.

Nachdem rechts und links die roten Wände des für die Straße ausgefrästen Gesteins zurücktreten, öffnet sich der Blick in ein nicht zu tiefes Tal mit bunten Gebäuden, Bäumen und Büschen zwischen Feldern und Gartenflächen. Die sanften Wiesen und gestreckten Hügel, mittlerweile auf einer Höhe von gut 2.700 Metern, muten europäisch an, trotz der Riesenopuntien, die sich mittendrin nach oben recken.

Vor dem Betrachter liegt San Antonio Cuajimoloyas. Fast schnurgerade zieht sich die Straße in die Ortsmitte hinein, doch etwas unterscheidet diesen Blick vom Üblichen in Mexiko. Die intakte Fahrbahn und die Bürgersteige rechts und links werden gepflegt. Bei genauerem Hinsehen sind in nur geringen Abständen Abfallbehälter an den Gartenzäunen oder Mauern angebracht. Kenntlich gemacht durch die pinselgemalte Aufschrift basura – Abfall. Die Fassaden, farbenfroh und ohne sichtbare Schäden. Vor den Hauseingängen, einzelnen, offenbar öffentlichen Gebäuden, auf Treppenstufen und Podesten stehen Blumenkästen mit Pelargonien bepflanzt, die sich leuchtend rot oder weiß von ihren Verwandten im Zentrum Europas kaum unterscheiden. Ein Stück Deutschland im Bundesstaat Oaxaca?

Guaji Fest - Reisegefühle zu Mexiko: "Das deutsche Dorf ohne Deutsche"
Dorffest im Bergort Cuajimoloyas in der Sierra Norte Oaxacas.

Die Straße läuft auf die Ortsmitte zu, die rechte Straßenhälfte ist indessen mit einem quergelegten Metallmast gesperrt; inmitten des Ortes wird gefeiert. Ein Fest, von dem die überall angebrachten bunten Wimpelketten genauso künden, wie das eine oder andere Plakat, auf dem ankündigende Angaben zu lesen sind. Die Hauptstraße ist im Ortskern komplett überdacht und Hunderte von Menschen strömen dorthin. Unverständlicherweise mit langen Hosen und Jacken bekleidet; Käppis ersetzen den erwarteten Sombrero. Sie erscheinen festlich, voller Erwartung, der Rauch von Grillrosten kräuselt sich über den Köpfen und bald wird Musik zu hören sein, nachdem die Messe in der Ortskirche beendet ist.

Das Auto darf vor dem Gemeindebüro stehenbleiben, die Anmeldung als Besucher ist vollzogen. Jeder, der die Wege und Sehenswürdigkeiten in diesem Gemeindeverbund nutzen möchte, muss sich vorher melden, seine Absichten erklären. Dementsprechend wird die Gebühr in Pesos festgelegt; Hinweise für Sicherheit oder spezielle Highlights inklusive. Sollte einer verunglücken, ist bekannt, wo man sich – zumindest dem Plan nach – hinbegeben hatte. Das Geld geht in die Instandhaltung. Gegenüber – im schneeweißen Gebäude mit Stufen samt Geländer – eine öffentliche Toilette, die für die landesüblichen fünf Pesos benutzt werden darf. Sauberer sls auf manchem deutschen Bahnhof.

Das Ziel ist der Mirador am Rande des Ortes, zu dem ein teils steiler und steiniger Wanderweg führt. Gewunden, unter Bäumen hindurch, zwischen blühendem Gesträuch, Felsbrocken, berückenden Blütenpflanzen, über knorrige Wurzeln, zuweilen gar mit Stufen. Nirgends Geländer oder sonstige sicherungstechnische Hässlichkeiten. Zugegeben, wer nicht in der Lage ist, auf sich selbst zu achten und ohne die notwendige Achtsamkeit seine Füße setzt, kann das übel bereuen.

Die Wegführung – teils in Serpentinen – erleichtert den Aufstieg und kurz bevor das Luftholen zu einer Pause zwingt, ist der knorrig überdachte Rastort mit Bänken und rustikaler Toilette erreicht. Es fehlen nur wenige Meter bis zum Gipfel der Aussichtsplattform, die – ebenfalls völlig ohne Balustraden – den Blick in die Tiefe riskant erscheinen lässt. Nach kurzem Verschnaufen sind diese Schritte gegangen und es eröffnet sich ein Rundblick über die Tallandschaft der Hochebene – umgeben von Gipfeln – auf Cuaji, wie die Einheimischen ihren Ort nennen. Es ist überaus warm trotz der erreichten 3.226 Meter. Die Mexikaner indes haben ihre Jacken zugeknöpft. Das ist Klimarelativität.

An einem stabil in Beton verankerten Mast sind Stahltrossen befestigt, die – über Bebauung, Felder und Wiesen hinweg – auf die andere Seite des Dorfes führen und dort an einem Bergplateau enden. Beherzte Menschen lassen sich an diesen Seilen über die etliche Kilometer lange Strecke katapultieren. Ein Überflug am Drahtseil mit passendem Gefälle und daher beachtlicher Geschwindigkeit. Zip line in der Sierra Norte de Oaxaca.

Sierra Norte de Oaxaca. Die entfernteren Berge sind mühelos zu sehen, die vereinzelten Wolken werfen ihre Schattenflächen auf das Tal, silbrig glänzende Straßenverläufe vermitteln eine Ahnung, woher man gekommen ist und welchen Höhenunterschied der robuste Verbrenner bewältigt hat.

Erneut fällt auf, wie geordnet dieses Gemeinwesen ist, wie sorgfältig gestaltet und gepflegt; wie heiter die Leute sich geben und welch Selbstbewusstsein aus jedem Einzelnen spricht. Vom Kind bis zum Alten. Der Grund liegt womöglich in der Organisation dieses Gemeindeverbundes, den die Menschen selbst verwalten. Alle haben ihre Aufgabe. Was zu sehen ist und geschaffen wurde, entstand aus eigener Arbeit mit eigenem Geld. Keinerlei staatliche oder NGO-Mittel sind dafür geflossen. Und bevor jemand ein Stück Grund bekommt, sich ein Haus bauen kann, mit Wasseranschluss und anderen kommunalen Vorteilen für Bürger dieser Region, wird er geprüft. Vieles davon und alle seine Rechte in der Gemeinschaft erhält er mancherorts nach einer Wartezeit von einigen Jahren.

Ausblick - Reisegefühle zu Mexiko: "Das deutsche Dorf ohne Deutsche"
Aussicht vom „Mirador“. Von hier aus gehts per Zipline zurück ins Dorf.

Der Weg zurück in die Siedlung ist ein leichter Abstieg, mit der erneut gebotenen Vorsicht. Die prachtvolle Natur liefert kostenfrei neue Perspektiven, Felder sind mit ihren Früchten zu erkennen, neben Obst wachsen hier Mais, Brokkoli, Chilis und Bohnen, ebenso Mangos und andere Früchte. Gleich an der Dorfstraße bietet eine Frau mittleren Alters Essen und Trinken an. An stabilen Tischen mit mexikanisch-bunten Tischdecken stehen bequeme Holzstühle. Die Wände im Inneren sind geschmückt und mit Produkten verziert, die man kaufen kann. Ein schmaler Verkaufstresen enthält eisgekühlte Getränke, Naschereien, Kuchen, Brot, sogar Kosmetika und selbst hergestellte Salben. An einer Kochstelle im Raum dahinter werden warme Gerichte zubereitet. Heute, neben anderem, ein Ragout aus frischgesammelten Pilzen mit Chili – die Frische war vorher an jedem einzelnen Exemplar überprüfbar. Tortillas, Salsa und Kaffee ergänzen. Es hätte genauso gut Kakao, Tee oder kühles Wasser sein dürfen; und wer seine Coca-Cola nicht lassen kann, findet sogar diese.

Comedor - Reisegefühle zu Mexiko: "Das deutsche Dorf ohne Deutsche"
Leckeres Pilz Ragout im Comedor „El Crucero“ in Cuajimoloyas.

Der Preis ist einem Fremden angemessen, das bedeutet, etwas höher als ein Einheimischer jemals zahlen würde. Dafür gibt es eine Tüte luftgetrocknete Mangos bester Qualität gratis. Das grummelnde Gewissen begünstigt solche Gaben, vor allem, wenn sich die Gäste nicht wie negativ-typische Touristen benehmen, sondern wie Menschen, die einander achtungsvoll begegnen.

Eine gefällige Frau mit wachen Augen; hilfsbereit mit ihrer selbsthergestellten Salbe für eine Hautabschürfung aus Unachtsamkeit. Ihr klarer verständiger Blick spiegelt den Selbstwert wider, den sich jeder hier erarbeitet hat.

Eine herzliche Verabschiedung, das zufriedene Gefühl, willkommen gewesen zu sein und wieder ein Stück dessen erlebt zu haben, was alle Menschen in ihrem Inneren miteinander verbindet.


Foto Uwe Kirst 1 - Reisegefühle zu Mexiko: "Das deutsche Dorf ohne Deutsche"

Uwe Kirst ist in Deutschland einem großen Publikum als Redner bekannt und lebt in Mexiko. Er schreibt seit Jahren Prosa. In seinen Geschichten pflegt er die klassische Form der Short Story, so in »Bella und Paul« sowie in diversen Anthologien. Ein Roman ist in Vorbereitung. Sein zweiter Band mit Erzählungen, »Sommerwege«, der soeben im Adakia Verlag Leipzig erschienen ist, wird derzeit ins Spanische übersetzt. Dieser Text, den moving2mex mit Erlaubnis von Autor und Verlag exklusiv vorab veröffentlichen darf, gehört zum Manuskript seines neuen Buches »Reisegefühle«, das demnächst, erscheinen wird.

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