Was mich das Leben in Mexiko gelehrt hat

Ein Liebesbrief an dieses Land, was es mir ermöglicht hat, so viele Masken und anerzogene Verhaltensweisen, die gar nicht meine waren, abzulegen und zu mir selbst zu finden.

Für mich gibt es kein größeres Geschenk, als wirklich einzutauchen in eine andere Kultur und von ihr zu lernen.

Gerade die bunte, laute, kontrastreiche und auch irgendwie dramatische Kultur Mexikos fasziniert mich als kopflastige, auf Disziplin und Leistung getrimmte Deutsche sehr.

Mehr als sechs Jahre lebe ich nun schon in diesem facettenreichen Land und könnte dankbarer nicht sein für all die Erkenntnisse, die ich hier gewinnen durfte und die ich jetzt mit dir teilen kann!

Dieser Artikel ist ein Liebesbrief an Mexiko und seine Menschen. Und natürlich auch an mich und meine jüngere Version, die so mutig war und einfach alles hinter sich ließ und in dieses so unbekannte Land zog und sich hier nochmal ganz neu kennen und lieben lernen durfte.

Im Moment leben

In meinem Alltag in Mexiko ist vieles nicht planbar. Verabredungen, Projekte und Möglichkeiten verändern sich ständig. Der Taxifahrer, den ich sonst für meine Touren engagiere, ist von einem Tag auf den nächsten kein Taxifahrer mehr, sondern baut jetzt Häuser; mein Lieblings-Obst-und-Gemüse-Stand im Dorf ist auf einmal eine Papeleria geworden und auf dem Weg in die Stadt ist plötzlich die Hauptstraße aufgrund von Demonstrationen blockiert und es geht stundenlang weder vor noch zurück.

„Si dios quiere“ (wenn Gott es so will) ist eine typische Redewendung, die du hier oft hörst. Am Anfang fand ich diese Aussage sehr irritierend, weil du doch selbst bestimmst, was passiert oder nicht passiert, so meine Annahme. Sicher wird diese Redewendung auch hier und da als Ausrede verwendet, um nicht in die Umsetzung zu kommen, aber oft haben wir wirklich keinen Einfluss darauf, ob unsere Pläne aufgehen oder eben nicht.

Es gibt eine höhere Macht, die uns leitet. Das spüre ich hier, wo ständig unvorhersehbare Situationen auftauchen und Pläne nicht funktionieren, noch viel mehr als damals in Deutschland, wo durch die ganze Routine und Planbarkeit eine Schein-Sicherheit entsteht.

Heute plane ich nur noch das Nötigste und bin viel flexibler geworden. Ich vertraue darauf, dass alles immer perfekt ist und dass wenn mein Plan nicht aufgeht, er einfach nicht gut war!

Kreativ sein

Was ich an den Mexikanern besonders schätze, ist ihr unglaubliches Talent, stets eine Lösung zu finden, und zwar mit dem, was da ist und was die Situation eben hergibt. Geht nicht, gibt’s nicht und was nicht passt, wird passend gemacht.

So wird ein Besenstil zur Halterung für die Kofferaumklappe, ein Plastikbeutel zum Behälter für Flüssigkeiten oder die Mülltüte zum Regencape, um noch die harmlosesten Beispiele zu nennen.

Dieser Erfindergeist stimuliert das Gehirn und fördert die Kreativität. Das hat sich mit den Jahren auch auf mich abgefärbt. Mittlerweile komme ich mit so viel weniger aus, weil ich meinen Verstand nutze und nicht für jede Situation mit Spezialausrüstung ausgestattet sein muss.

Macht es auch nicht einfach viel mehr Spaß, diesen Raum für die eigene Kreativität zu haben, anstatt bei jedem Problem auf Amazon das passende Werkzeug zu kaufen? Das mag bequemer sein, aber nicht erfüllender.

Dankbarkeit fürs Leben

Der offene, oft auch humorvolle Umgang mit dem Tod sowie die unter den Mexikanern weit verbreitete, tiefe Gewissheit, dass wir lediglich physisch sterben, führt automatisch dazu, das Leben mehr zu ehren und die Angst vor dem Tod abzulegen.

Denn letztendlich steckt hinter der Angst vor dem Tod die Angst vor dem Leben.

In Mexiko durfte ich lernen, dass jeder Tag ein Geschenk ist und dass wir für so vieles, wie ein Dach über dem Kopf, ein sicheres Zuhause, fließend Wasser usw. sehr dankbar sein können. Nichts ist selbstverständlich.

Wenn du gesund bist und ein Handy besitzt, stehen dir schon sehr viele Optionen offen, die anderen verwehrt bleiben. Sei dir deiner Privilegien bewusst und nutze sie sinnvoll!

Humor und Leichtigkeit

Ich liebe den Humor der Mexikaner! Nichts wird todernst gesehen, aus jeder noch so misslichen Lage entsteht die beste Situationskomik. Getreu nach dem Motto „Lachen ist die beste Medizin“! Denn das Leben ist so viel leichter und lebenswerter, wenn du es mit Humor nimmst und in den beschissensten Situationen einfach laut loslachst. Es ist unglaublich, wie viel schwere Energien durchs Lachen transformiert werden.

Dieser Humor hilft mir dabei, mich selbst nicht so ernst zu nehmen, viel mehr auszuprobieren und zu experimentieren. Ohne ständig den tieferen Sinn und das Resultat im Kopf zu haben.

Essen genießen

Lange Zeit habe ich nur gegessen, um meinen Hunger zu stillen und meinen Körper mit Nährstoffen zu versorgen. Essen war für mich eher Mittel zum Zweck und gehörte eben dazu.

Heute finde ich so viel Freude und Erfüllung um das Thema Essen. Das habe ich wohl der mexikanischen Kultur zu verdanken, in der Essen eine so fundamentale Rolle spielt. Ganz besonders hier in Oaxaca, wo noch sehr traditionell gekocht wird und viele Gerichte hunderte von Jahren alt sind und von Generation zu Generation überliefert werden.

Essen steht in Oaxaca für Kultur, Tradition und Gemeinschaft. Da hier voller Stolz so viel selbst gekocht wird, mit Zutaten aus erster Hand, entsteht eine ganz andere Verbindung zum Essen.

Auch das Essen und Zubereiten mit den Händen trägt dazu bei, dass automatisch eine engere Verbindung zu dem entsteht, was du deinem Körper zuführst. Heute nutze ich Besteck nur noch, wenn es wirklich nötig ist, denn es schafft eine künstliche Distanz zum Essen. So fühlt es sich zumindest für mich an.

Gefühle ausleben

In Mexiko ist dieser Teil in mir wieder erwacht, der sich voller Leidenschaft und mit Händen und Füßen ausdrücken will! Aus dem die verschiedensten Gefühle einfach herausbrodeln, der weder seine Tränen noch seine kindliche Freude verstecken will. Der Teil, den ich so viele Jahre in meinem alten Leben in Deutschland unterdrückt habe, diese Flamme, die immer kleiner wurde und schon fast erlosch.

Das Leben ist hier so viel gefühlsbetonter. Ständig läuft irgendwo Musik, man hört lautes Lachen, Menschen rufen sich über die Straße zu und treffen sich im Park zum Tanzen.

Auch Wut und Frustration werden gelebt. So oft habe ich schon Fausthiebe und Rangelein im Straßenverkehr gesehen. Nicht selten folgt darauf dann eine Umarmung.

Das Leben ist hier dramatischer, leidenschaftlicher, intensiver, lebendiger. Und genau das hat mir dabei geholfen, mich wieder mehr meinen Gefühlen zu öffnen und meine Flamme zu entfachen.

Sinn für Gemeinschaft

In Mexiko steht die Familie an erster Stelle. Und mexikanische Familien können sehr groß sein. So ist es ganz normal, dass der Sohn sein Einkommen mit den Eltern teilt und bei Arbeitslosigkeit ins Elternhaus zurückzieht.

Es gibt kein Sozialsystem vom Staat, was dich bei Jobverlust, Krankheit usw. absichert. Wenn du in Mexiko kein Einkommen generierst, dann unterstützt dich in der Regel deine Familie, die als finanzielle Absicherung agiert.

Auch innerhalb der Dorfgemeinden unterstützt man sich gegenseitig. So gibt es Traditionen wie das „Tequio“, wo die Bewohner an bestimmten Tagen zusammenkommen und für die Gemeinde arbeiten. So werden ganze Straßen gebaut, Wasserkanäle installiert, öffentliche Plätze gereinigt usw. Ganz ohne Zutun der Regierung.
Für mich ist es immer wieder unglaublich zu sehen, was alles möglich ist, wenn Menschen sich organisieren und ihre Zeit, Arbeitskraft und Geld miteinander teilen.

Da ich selbst in einem kleinen Ort ca. 30 Minuten von Oaxaca Stadt entfernt wohne und hier sehr gut eingebunden bin, habe ich mit den Jahren verstanden, wie wichtig Gemeinschaft ist. Seitdem ich hier die Möglichkeit habe, mich sinnvoll einzubringen und mein Wissen und meine Ressourcen zu teilen, ist mein Leben viel erfüllter geworden.

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