Dies ist ein exklusiver Auszug aus dem bald im Adakia Verlag erscheinenden Buch „Reisegefühle“ von Uwe Kirst. Im Juni 2023 hatte ich die große Freude, Uwe und seine bezaubernde Frau Heike bei mir hier in Oaxaca willkommen zu heißen. Zusammen haben wir eine Woche lang Oaxaca entdeckt. Daraufhin sind berührende, tiefgehende, in sich geschlossene Kurzgeschichten für das Buch „Reisegefühle“ entstanden. Viel Freude beim Vorab-Lesen!
Geld oder Leben
Wenn es gilt, ein Land zu beschreiben, scheitert der Berichtende zuweilen an den eigenen Grenzen seiner Wahrnehmung. Aufgewachsen im kleinteiligen Deutschland, wo hinter jedem Busch die nächste Ortschaft wartet, erscheint eine etliche Kilometer lange Straße als schier endloser Weg. Schneidet man dieses Land dann aus einer Landkarte aus und legt es auf eine Weltkarte gleichen Maßstabs, so erfasst zumindest mich eine gewisse Beschämung, wieso sich dieser geographische Klecks herausnimmt, beurteilen zu wollen, was diese Welt nötig hat.
Ohne jeden Zweifel ist der menschliche Geist unendlich in seiner phantasievollen Kraft. Sind Wissen und Erfahrung, Erreichtes und Talent machtvoller als territoriale Ausdehnung. Konnten doch ein Einstein, ein Leonardo, ein Hawkins oder ein Goethe, ein Tolstoi, ein Mark Twain mit ihrem Geist die Welt erfassen – einem Vogel gleich weit über Landesgrenzen oder gar das Weichbild der Erde hinaus.
Der Versuch hingegen, mit einer regionalen Zuckerbäckerperspektive auf der anderen Halbkugel unseres Planeten den Menschen vorschreiben zu wollen, wie dort eine Straße zu kehren sei, gerät zu einer Farce, die leider längst nicht mehr nur lustig ist.
Aus der Sortiertheit meines Geburtslandes heraus, dessen Bürger es damals tunlichst nicht einmal verlassen sollten, urplötzlich den Hauch des Lebens der Welt zu erfahren, erfüllt mich nach wie vor mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Das, genau das erleben zu dürfen und mit der eigenen Vita zwei Universen zu verbinden, ohne, dass sich der Geist nachhaltig verwirrt, ist eines der vielen Wunder im Leben von Menschen. Insbesondere dann, wenn es mir gelingt, die Vorstellung davon, wie etwas zu sein hat, strikt zwischen meinen alten Schulzeugnissen, Diplomen und Berechtigungsscheinen zu verbergen; abzulegen, wie ein Kleidungsstück, das nicht mehr passt. Zum Format des eigenen Denkens zu finden, einem virilen Weltbild, weitab vom gewohnten Bewertungskatalog alter deutscher Schule.
Mexiko ist ein solches Land, das mich immer wieder lehrt, worauf es ankommt und was im Leben von Menschen zählt.
»Wenn ein Mexikaner Geld hat, dann gibt er es aus.« So zitiert ein lieber Freund aus seinem umfangreichen Erfahrungsschatz. Ab einem gewissen Zeitpunkt meines Lebens begann ich zu erkennen, dass dieses Urteil zu falschen Schlussfolgerungen führt.
Bestärkt werde ich durch das Schicksal von Weggefährten: Der Freund, der unvermittelt eine Diagnose erhält, die sein Lebenspensum limitiert. Die Kollegin, die infolge einer Infektion ihren Verstand zu großen Teilen verliert und inzwischen nicht mehr realisiert, wer sie ist und wer sie einmal war.
Was hilft dem Unternehmer, dass er Jahre und Jahrzehnte, vorgesorgt, gebunkert, sich abgesichert hat, wenn mit einem einzigen Ereignis all das den Gläubigern anheimfällt? Der klassische Satz jedes typischen Nachbarn daraufhin – »Selber schuld!« – ändert nichts daran, dass das vertagte Leben, das aufgesparte Genießen – letztlich das Nicht-gelebt-haben niemals nachgeholt werden kann.
»Wenn ich mal pensioniert bin, dann werde ich auf Berge steigen, alle Bücher lesen, die schönsten Frauen verwöhnen und es mir gut gehen lassen!«
Ein Blick in die Gesichter ungezählter Rentenempfänger, gleich welchen Alters, liefert eine Ahnung von der Wahrheit dieses Lebensmottos des durchschnittlichen Menschen unserer deutschen Zeit.
Der zitierte Mexikaner hat schlimmstenfalls morgen nichts mehr von dem Geld, das er heute mit Freude für sich oder die Familie ausgibt. Aber womöglich hat er vielmehr davon, als der Verblichene, um dessen gefüllte Konten sich jetzt andere kümmern werden.
Die Gesichter der Menschen, die mir hier begegnen, erzählen von diesem Leben, gleich, wie alt sie sind. Doch fast jedes Mal, wenn mein verbindliches, aufmerksames Wort zu ihnen dringt, erweckt es ein strahlendes Lächeln – die Freundlichkeit wird mir verstärkt zurückgegeben.
Auf den Parkflächen einer riesigen Einkaufsmall – nicht weniger imposant als in den Vereinigten Staaten – wurden unlängst alle Kassenhäuschen, an denen beim Ausfahren der Park-Obolus zu entrichten war, durch automatische Systeme ersetzt. Die Ausfahrt erfordert mithin ein bezahltes Ticket. Als ich das begriffen hatte, stand ich längst vor dem Schlagbaum und hinter mir einige Autos, die das Areal ebenfalls verlassen wollten. Ein aus der Entfernung streng wirkender Parkwächter bedeutete mir im Näherkommen mit einem breiten Lächeln, dass ich das Fahrzeug ein Stück zurücksetzen solle, aber es getrost in dieser Spur stehenlassen dürfe. Zumindest so lange, bis ich am hundert Meter entfernten Automaten mein Ticket bezahlt habe. Die vier Autofahrer, die hinter mir jetzt rangierten und mich dann umfahren durften, grinsten mir verständnisvoll zu.
In einigen Tagen bin ich eingeladen. Bei der Familie eines mexikanischen Tischlers und Schlossers – hier nimmt man es nicht so genau mit der Abgrenzung der Berufe. Eine seiner Töchter wird drei Jahre alt, was hier mit einem großen Fest begangen wird, da früher nicht jedes Kind diesen Tag erreichte. Er wird sich einen Vorschuss holen und alles aufbieten, was die mindestens hundertfünfzig Familienmitglieder und Gäste zufriedenstellt. Ab Montag wird er viele zusätzliche Stunden zur Arbeit gehen, um die finanzielle Lücke wieder zu schließen.
Bleiben wird in den Köpfen all derer, die mitfeiern durften, ein heiteres Fest mit Freude und Lachen, mit Musik und reichlichem Essen. Dieses Erleben werden sie mitnehmen, wenn sie nach Hause gehen. Und der ganze Ort wird darüber sprechen, lange und gern.
Was ist passend in unserem Leben, für das nur wir verantwortlich sind? Es gibt darauf keine allgemeingültige Antwort, nur Antwortbeispiele. Ich finde sie in den Augen der Menschen, die ich immer wieder treffe oder die mir zufällig begegnen. In Mexiko und anderswo.
Uwe Kirst ist in Deutschland einem großen Publikum als Redner bekannt und lebt in Mexiko. Er schreibt seit Jahren Prosa. In seinen Geschichten pflegt er die klassische Form der Short Story, so in »Bella und Paul« sowie in diversen Anthologien. Ein Roman ist in Vorbereitung. Sein zweiter Band mit Erzählungen, »Sommerwege«, der soeben im Adakia Verlag Leipzig erschienen ist, wird derzeit ins Spanische übersetzt. Dieser Text, den moving2mex mit Erlaubnis von Autor und Verlag exklusiv vorab veröffentlichen darf, gehört zum Manuskript seines neuen Buches »Reisegefühle«, das demnächst, erscheinen wird.
1 comment
Auf nach Mexiko, ins freundliche Land mit glücklichen und lebensbejahenden Menschen!?
Wenn das so einfach wäre, würde dies wohl sehr viel Menschen mehr machen, oder?
Wie verpflanzt man einen Baum, der lange wuchs, geduldig Regeln verinnerlichte, versucht hat sein Leben im Einklang mit Gott und der Welt zu führen? Und wie kann er wieder Wurzeln und gedeihen in fremder Umgebung? Soll er noch einmal starten im Bewusstsein der Mühen der Berge und der langen Geraden, die auf ihn warten?
Man braucht wohl mehr als Mut und Optimismus.
So bleibt es spannend, was der Autor über seine Erlebnisse und Erfahrungen im fernen Land zu berichten weiß.