Dies ist ein exklusiver Auszug aus dem bald im Adakia Verlag erscheinenden Buch „Reisegefühle“ von Uwe Kirst. Im Juni 2023 hatte ich die große Freude, Uwe und seine bezaubernde Frau Heike bei mir hier in Oaxaca willkommen zu heißen. Zusammen haben wir eine Woche lang Oaxaca entdeckt. Daraufhin sind berührende, tiefgehende, in sich geschlossene Kurzgeschichten für das Buch „Reisegefühle“ entstanden. Viel Freude beim Vorab-Lesen!
Kakaobohnen
Die Straßen in San Sebastián Etla sind besser als anderswo. Zuweilen mit einem mittigen Betonstreifen versehen, bieten sie den Schritten mehr Sicherheit, als die rustikal wirkenden Pflasterungen mit natürlichen Steinen, wiewohl an vielen Stellen ansprechende, obgleich schmale Bürgersteige anzutreffen sind.
Eine dieser Straßen führt vom placa principal weg, leicht abfallend wie die meisten hier, bis zur Durchfahrtstraße mit vier Fahrbahnen. An der Einmündung links eine moderne PEMEX-Tankstelle und rechts ein Oxxo, der nicht groß, aber bestens ausgestattet, unverzichtbare Bedarfsartikel, stets ausreichend gekühlte Getränke, genauso wie Eiswürfel und die wichtigsten Lebensmittel vorhält. Anzutreffen überall in Mexiko – und an vielen Standorten rund um die Uhr geöffnet.
Nur – so weit will ich nicht gehen, denn auf halber Höhe, an einer spitzzulaufenden Einmündung künden einige Tafeln von der Existenz eines bekannten Cafés. Diese Bezeichnung ist recht ungezielt, wo doch solche gastlichen Orte in Mexiko meist weit mehr als Kaffee bieten. In dieser Gegend zum Beispiel Kakao in verschiedenen Varianten, frische Säfte und Essbares. Hungrig oder durstig durch Straßen und Gassen laufen zu müssen, gehört nicht zur Erfahrungswelt eines Mexikoreisenden.
Schon von außen verlockt der Blick durch eine breite hölzerne Tür, gefällig konstruiert, auf eine Hochstuhlreihe aus rohem Naturholz. Hell, zierlich und stabil steht sie aufgereiht an einem Tresen.
Ausreichend überdacht kann man hier sitzen, um einen Kaffee Americano oder eine Michelada, das ist ein süffiger Tomaten-Biercocktail mit Chili, zu trinken. Zur Straße hin öffnet sich ein Ausschank. Ich möchte weiter hinten im Innenhof sitzen, an einem der rechteckigen Tische, geschützt vor der Sonne und plötzlichem Wind.
Alle Möbel sind ebenfalls aus sauber geschliffenem hellen Rohholz. Die Tischplatten aus dicker polierter Spanplatte schaffen mit ihren großen und langen Spänen einen dekorativen Kontrast zu Gläsern und Geschirr. Ein bemaltes tönernes Gefäß und ein Halter aus dunklem Holz für die üblichen quadratischen Papierservietten bilden den Tischschmuck.
Auf der anderen Seite des überdachten Hofes befindet sich ein Wirtschaftsraum mit einem Ausgabeschalter. Links erspäht mein Blick eine aus gebrannten Ziegeln mit breiten Fugen gemauerte Wand mit Öffnung, aus der ein Tresen herausgemauert ist, auf dessen dicker Platte gefüllte Schüsseln stehen – sicher das von anderen Gästen bestellte Essen. Hinter allem ein Ofen als Lehm-Halbkugel auf Natursteinen mit einer Eisentür im halben Bogen, dicht verschlossen. Links daneben Grünpflanzen, was dieser Küche einen eigenwilligen Charakter verleiht. Von der Decke hängen Gerätschaften aus Holz, Mörser zum Zerkleinern und Rühren sowie zum Mahlen von Salsa. Der Zugang ins Kochparadies erfolgt links hinten über einen Seitengang.
Ein älteres Paar sitzt an einem der Tische und isst. Meinen Sombrero kann ich auf einen Hutständer hängen, der in Meterhöhe fast in allen Restaurationen und Bars des Landes neben den Stühlen zu finden ist und sich bestens eignet, selbst eine Handtasche aufzuhängen. Die Wände sind in verschiedenen Erdfarben gestrichen, Holzkonstrukte halten bunte Töpfe mit Farnen und anderen Grünpflanzen.
Eine junge Bedienung fragt nach meiner Bestellung. Ich entscheide mich für Tejate, einst ein Getränk ausschließlich des zapotekischen Königshauses – heute in Oaxaca weit verbreitet beliebt. Aus fermentierten Kakaobohnen, gemahlenen gerösteten Mamey-Kernen, Mais, Blüten der rosita de cacao und Wasser wird per Hand eine milchbraune, erfrischende Flüssigkeit hergestellt, auf der ein perliger Schaum die darin enthaltenen Eiswürfel bedeckt. Es ist ein Stück des kulinarischen Mexiko, das in Europa niemals, selbst nicht im Ansatz kopierbar ist. Zuweilen schlechthin deswegen, weil dort mexikanisches Obst und Gemüse nicht gedeihen.
Während mein Getränk in einer weiten bemalten und lackierten Holzschale serviert wird, kommt eine fast kindlich wirkende, sanguine Frau in den Raum. Sie ist nicht groß, trägt ein weißes T-Shirt, eine farbenfroh bestickte rosarote Schürze und halbhohe rotbraune Schnürschuhe, blank geputzt. Sie prüft mit kurzem Blick, ob an meinem Tisch alles in Ordnung ist. Zwei Worte, und die Serviererin ist auf dem Weg nach einer fehlenden Ergänzung. Ángeles – oder Angi, wie die Einwohner von Etla sie nennen – ist die Inhaberin des Ganzen. Sie strahlt mich an.
Ob es mir denn gefiele in ihrem Café und ob ich essen wolle. Inzwischen stellt mir ihre Mitarbeiterin eine Tonschale mit gerösteten Kakaobohnen auf den Tisch. Dunkelbraun sehen sie auf den ersten Blick wie große Bohnenkerne aus. Ihren Hinweis, sie zu zerbeißen und dazu Tejate zu trinken, befolge ich beflissen – wie so oft ist es ein Gewinn, solchen Vorschlägen zu folgen.
Sie redet lebhaft mit meiner Begleitung – sie kennen sich. Gleichzeitig huschen ihren aufmerksamen Augen umher, um ja nicht zu verpassen, wenn ein Gast etwas braucht. Vor dem Tonofen hantiert die Köchin, wesentlich älter als ihre Chefin, und der Gedanke, doch zu essen, ist schwer zu unterdrücken.
Ich mustere den Raum und bin von der heimeligen Atmosphäre gefangen, die von jemandem erzeugt wird, der in manchem zentraleuropäischen Land nicht einmal eine Genehmigung für ein Lokal erhalten hätte. Mit ihrem braunen, krempigen Lederhut und dem kundigen Griff ihrer geschickten Hände ist sie ein Unikat. Ihre latente Bereitschaft, alles so zu richten, wie es ihren Gästen guttut, unterscheidet sich von der herablassenden Haltung blasierter oder genervter Kellner und Manager in so manch noblerem Etablissement, deren ich schon ungezählte in vielen Ländern besucht habe.
Dem Verdruss, der sich in der Öffentlichkeit deutscher Befindlichkeiten derzeit entwickelt, setzt sie hier ihre unbändige Lust entgegen, zu gestalten. Ungehemmt von zahllosen ordnungs- und andersrechtlichen Bestimmungen – fraglos zugleich ungeschützter vor Risiken – schafft sie ihre Unternehmerinnenwelt. Ohne lange darüber nachzudenken, ob sie es denn kann, darf oder langfristig erfolgreich bewältigen wird.
Unternehmerischer Mut, Intelligenz und Kreativität – das sind ihre Instrumente, durchzusetzen, was sie in ihrem Kopf visionär vorsortiert hat. Mit Liebe zur Sache und zu den Menschen, die sie bewirten will. Im letzten Jahr schwer an Corona erkrankt, hatte das ganze Dorf Geld für Angi gesammelt, um die beträchtlichen Aufwendungen der Ärzte zu decken, die ihr letztlich das Leben retteten. Wie ich erfuhr, waren das nicht nur Spenden betuchter Mexikaner; selbst die wahrhaft nicht wohlhabenden Nachbarn und Freunde trugen dazu bei.
Was bilden wir uns zuweilen ein, zu meinen, junge Menschen in weniger hochgezüchteten Gemeinwesen, hätten weder Chance noch Hoffnung, etwas zu schaffen, das Bestand hat? Sie tun es in aller Selbstverständlichkeit und kämpfen voller Begeisterung, verbunden mit all den Gefahren unternehmerischen Tuns – und der Erfolg gibt ihnen recht.
Niemand vermag zu wissen, ob Ángeles aus San Sebastián Etla in fünfundzwanzig Jahren noch Besitzerin dieses Cafés sein wird. Keiner kann sagen, ob sie dann weiter als Unternehmerin agiert, von ihren Erfolgen getragen ist oder – wie es bei uns heißt – ›ausgesorgt‹ haben wird. Doch das ficht sie nicht an. Denn sie gestaltet ihr Leben nach ihrem Gusto, ohne soziale Hängematte, Förderkredite und den Rückenwind staatlicher Institutionen. Ebenso wenig auf Kosten anderer. Sie tut es mit der furchtlosen Kraft solcher Persönlichkeiten, wie sie in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft auf allen Ebenen des Lebens dafür gesorgt haben, dass es uns Menschen bis zum heutigen Tag gibt.
Ich bekomme zum Abschied die mexikanischen Küsse, wie jeder Freund, zu dem derjenige offenbar wird, der hier ein gern gesehener Gast war. Ich spüre sie auf meiner Haut, selbst, als ich längst auf einer Bank am placa principal den Kindern beim Spielen zusehe.
Uwe Kirst ist in Deutschland einem großen Publikum als Redner bekannt und lebt in Mexiko. Er schreibt seit Jahren Prosa. In seinen Geschichten pflegt er die klassische Form der Short Story, so in »Bella und Paul« sowie in diversen Anthologien. Ein Roman ist in Vorbereitung. Sein zweiter Band mit Erzählungen, »Sommerwege«, der soeben im Adakia Verlag Leipzig erschienen ist, wird derzeit ins Spanische übersetzt. Dieser Text, den moving2mex mit Erlaubnis von Autor und Verlag exklusiv vorab veröffentlichen darf, gehört zum Manuskript seines neuen Buches »Reisegefühle«, das demnächst, erscheinen wird.
2 comments
Kakaobohnen – die Reise mit Uwe geht weiter. Der Strom, der Leben heißt, zieht sich jetzt durch Mexiko. Dazu alles gute mein Lieber! Für mich wäre es sehr interessant mehr von Ángeles aus San Sebastián Etla zu erfahren. Ich meine das „von“ wörtlich, nicht über sie. Bekommt sie eine Stimme? Erfahren wir mehr aus ihrer Welt, die uns fern, aber im Grunde doch ganz ähnlich ist, wie in der Geschichte geschrieben? Mut und Engagement braucht es überall, wenn man seinen Weg gehen will. Da sind wir uns wohl alle sehr ähnlich auf dieser Welt. Ich bin gespannt, welche Geschichten noch kommen werden aus dieser sympathischen Welt. Mit dieser Neugier weiß ich mich im Bunde mit vielen Gleichgesinnten in nah und fern.
Es bereitet mir große Freude, dass meine Geschichten als Vorabveröffentlichung in Katrin Schrimpfs wundervollem Mexico-Blog zu lesen sind. Meine Intentionen sind der Menschenliebe, die sie ausstrahlt, sehr nahe. Wenn auch nur eine Handvoll Leserinnen und Leser dadurch ein lebendigeres Bild dieser Welt und ihrer Menschen bekommt als allgemeinhin vorhanden ist, haben wir etwas richtig gemacht.
Viel Freude beim Lesen!
Uwe Kirst